Die mächtigste Lobby der Schweiz

Bild: Andreas Fischinger / Unsplash

Lieber Nationalratspräsident Eric Nussbaumer,

Sie sind im Moment offiziell der höchste Schweizer. Denn Sie sind Präsident der Vereinigten Bundesversammlung: der obersten Gewalt im Bund. Schliesslich ruht in der besten Demokratie der Welt, die wir gerne sein wollen, die Macht beim Volk – seine Vertreterinnen und Vertreter halten, gemeinsam mit den Gerichten, die Regierung und die Verwaltung in Schach. Jedenfalls ist das die Idee. Die Realität sieht ernüchternder aus. 

Nämlich so: Das Personalbudget der ganzen Bundesverwaltung betrug 2023 insgesamt 6,23 Milliarden Franken für 38’500 Vollzeitbeschäftigte. Dasjenige der Parlamentsdienste gerade mal 0,6 Prozent davon: 79 Millionen Franken für 235 Vollzeitbeschäftigte und die 246 Ratsmitglieder. 

Anders ausgedrückt: 1 Parlamentsangestellte steht 80 Verwaltungsangestellten gegenüber. 

Und noch mal anders: Allein der Kommunikationsapparat der Verwaltung zählt mehr Mitarbeitende (414 Vollzeitstellen), als die Bundesversammlung Mitglieder hat (246 Ratsmitglieder im Milizamt). 

Formell ist das Parlament die gesetzgebende Gewalt, Exekutive und Verwaltung sind die ausführende Kraft. In der Realität hat aber die Verwaltung gerade bei der Gesetzgebung eine Schlüsselrolle: Zu Beginn eines neuen Gesetzes oder einer Reform erfolgt jeweils eine Vernehmlassung. Dazu legt der Bundesrat einen ausformulierten Gesetzestext vor. Verfasst hat ihn die Verwaltung. 

Parteien und Verbände äussern sich dazu und die Verwaltung nimmt Anpassungen vor. Diese fallen jedoch meist marginal aus: Als «Kompromiss» bleibt die Verwaltung nach der Vernehmlassung oft bei ihrem früheren Standpunkt. Wenn danach das fixfertig ausformulierte Gesetz ins Parlament kommt, steht es diesem theoretisch frei, Anpassungen vorzunehmen. In Realität wird in vielen Fällen ein Grossteil der Verwaltungsvorlage übernommen. Gesetze und Reform gegen den Willen der Verwaltung durchzubringen, ist enorm schwierig: Zu gross ist die Ressourcen- und Informationsasymmetrie.

Was nicht gefällt, das versandet

Die Individualbesteuerung zum Beispiel musste in den letzten Jahren nicht weniger als vier Mal in Auftrag gegeben werden – es brauchte eine Volksinitiative, den Wechsel eines Departementschefs und eines Direktors, um endlich eine Vorlage zu erhalten, wie sie dem Willen der Auftraggeberin nahekommt. Anderes versandet gleich ganz: Das Postulat zum Vergleich von Elternzeitmodellen (2021 in Auftrag gegeben) scheint gerade dieses Schicksal zu ereilen. 

Wenn öffentlich über die mächtigsten Lobbys der Schweiz diskutiert wird, spricht das Land oft von der Gesundheitsbranche, den Rohstoffkonzernen, dem Finanzplatz, den NGO – und allen entsprechenden Agenturen, die in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden schiessen.

Vergessen geht dabei aber oft die mächtigste Lobby der Schweiz: die Verwaltung. Sie prüft, verwirft, treibt Anliegen voran oder lässt sie versanden. In der Theorie vertritt die Verwaltung keine Interessen, sondern führt nur aus, was das Parlament unter Ihrer Leitung, lieber Eric Nussbaumer, beschlossen hat. Doch auch die Verwaltung besteht aus Menschen. Menschen mit politischen Werthaltungen und Zielen. Und diese wollen ihre Sicht der Dinge durchsetzen. Das kann für die Demokratie ein Problem werden: wenn jene Mächte, die als Kontrollinstanzen eingesetzt wurden – das Parlament, aber auch die «vierte Macht» der Medien – deutlich schwächer ausgestattet sind. 

Das Schweizer Parlament ist eines der ressourcenschwächsten und am wenigsten professionalisierten. Das kann ein Problem sein, wenn es Parlamentarierinnen und Parlamentarier anfällig macht für Beeinflussungsversuche und Abhängigkeiten. Es kann bedeuten, dass Gesetzgebungsprozesse länger dauern und dass die gewählten Volksvertreter und Milizpolitikerinnen übersteuert werden. Und es kann ebenfalls bedeuten, dass eine weitere wichtige Aufgabe – die Geschäftsprüfung über die verwendeten Steuergelder und die Arbeit der Exekutive – nicht so scharf und gründlich erfüllt wird, wie es optimal wäre. 

Die Schweiz muss, wenn sie das mit der obersten Gewalt im Bund und der Machtbalance zwischen den Institutionen ernst meint, ihr Parlament stärken. Ich bin überzeugt, dass es sinnvolle Reformen gibt. Ich verlange weder ein Berufsparlament noch ein blindes Zusammenstreichen der Verwaltung. Die grosse Chance dabei: Eigentlich sollten in dem Fall alle Parteien ein Interesse daran haben.

Wie wäre es, wenn wir im nächsten Jahr eine Sondersession zur Stärkung des Parlaments und zur Korrektur des Machtungleichgewichts führen? Niemand anderes als Sie – geschätzter Eric Nussbaumer und höchster Schweizer – kann das glaubwürdiger thematisieren.

Herzliche Grüsse, Kathrin Bertschy

Diese Kolumne erschien am 16.04.2024 im Tages-Anzeiger.