Warum zählt die OECD mehr als junge Familien?

Bild: Recha Oktaviani / Unsplash

Sehr geehrte kantonale Finanzdirektorinnen und Finanzdirektoren,

Finanzministerin Karin Keller-Sutter hat vor drei Wochen ihren Vorschlag für das Bundesgesetz zur Individualbesteuerung vorgestellt. Der Bundesrätin und ihrem Team ist es gelungen, ein fein austariertes Modell zu erarbeiten, das diverse Anliegen der Vernehmlassungen aufnimmt. Dass ihre Präsentation nicht von überschwänglicher Begeisterung geprägt war, obwohl sich hier ein lang ersehnter Epochenwechsel abzeichnet, dürfte massgeblich mit der langen Umsetzungsphase zusammenhängen, welche die Kantone einfordern. Sie, geschätzte Finanzdirektorinnen und Finanzdirektoren, liessen verlauten, dass sie für eine Umstellung Zeit bräuchten. 

Viel Zeit. Ganze zehn Jahre.

Dabei beweisen Sie aktuell, dass es anders geht: Bei der OECD-Mindestbesteuerung sind Sie rasant unterwegs: Nicht mehr als zwei Jahre dauert die Umsetzung. Und selbst beim extrem aufwendigen Wechsel von der zweijährigen Vergangenheitsbemessung zur einjährigen Gegenwartsbemessung, welche die Zahl der zu verarbeitenden Dossiers in den Steuerverwaltungen auf einen Schlag verdoppelte, wurde die Übergangsfrist nur auf acht Jahre angesetzt. Lange bevor die Digitalisierung in der Steuerverwaltung Einzug hielt. Diese Beispiele zeigen: Wenn international Druck gemacht wird oder die Kantone selbst ein grosses Interesse an einer raschen Umsetzung haben, geht es sehr schnell.

Bei der Individualbesteuerung, einem wichtigen Anliegen der Bevölkerung, insbesondere sehr vieler Frauen im Land, ist Ihr Aufstöhnen jedoch bis nach Bundesbern hörbar.

Die anderen ernten die Früchte

Ich habe ja ein gewisses Verständnis für Ihren Ärger. Betriebsumstellungen machen immer Ärger, und ja, die Zahl der Dossiers nimmt zu. Und es ist auch unfair: Sie haben nichts als Aufwand – während ihre Kolleginnen und Kollegen in den Volkswirtschafts- und Sozialdepartements die Früchte ernten: mehr Beschäftigte, finanziell unabhängigere Frauen und langfristig tiefere Ergänzungsleistungen, weil für das Alter sowie bei einer Scheidung besser vorgesorgt wird. Denn die Individualbesteuerung sorgt dafür, dass sich bei Ehepaaren ein zweites Einkommen mehr lohnt – besonders für junge Familien, denen neben Kitakosten und Steuern oft Ende Monat kaum etwas davon bleibt.

Diese Reform ist sinnvoll, denn unsere Volkswirtschaft ringt schon jetzt um Fachkräfte. Mit der Pensionierung der Babyboomer wird sich die Situation weiter zuspitzen. Eine Individualbesteuerung – das zeigen volkswirtschaftliche Schätzungen – wird aufgrund besserer Erwerbsanreize rund 50’000 Vollzeitbeschäftigte zusätzlich motivieren. Das sind Zehntausende, welche heute nicht erwerbstätig sind und wieder einsteigen. Und Zehntausende, die ihre Pensen erhöhen. Weil sich das endlich auch finanziell auszahlt. Um es in einer Sprache zu sagen, die man in der Schweiz gut versteht: Erwerbsarbeit muss und wird sich lohnen.

Grundsätzlich ist dies ein Anliegen, das in der Schweiz alle politischen Richtungen teilen. Und dennoch. Noch vor 10 Jahren wollten die damalige CVP und die SVP ein Verbot der Individualbesteuerung in die Verfassung schreiben oder Geld für nicht erwerbstätige Ehefrauen mobilisieren: ganz im Sinne eines Ideals der treu sorgenden Mutter und finanziell abhängigen Ehefrau. CVP und SVP sind die Parteien, die bis heute viele von Ihnen, geschätzte Finanzdirektorinnen und Finanzdirektoren, stellen.

Heute ist eine andere Zeit. Und ich bin überzeugt, geschätzte Damen und Herren, Sie können zur treibenden Kraft der Veränderung werden! Ihrer Steuerverwaltung können Sie mit gutem Gewissen auch bürokratische Entlastungen versprechen: Mit der Individualbesteuerung müssten Sie in Zukunft nicht mehr Einzelpersonen zu Dossiers zusammenführen, wenn sie heiraten, um diese dann in 50 Prozent der Fälle wieder aufzutrennen, wenn die Scheidung erfolgt. Es ist denn auch wenig überraschend, dass die allermeisten europäischen Staaten immer schon oder längst die Individualbesteuerung kennen. 

National- und Ständerat haben die Individualbesteuerung inzwischen dreimal (!) in Auftrag gegeben. Hinzu kam eine überparteilich gesammelte Volksinitiative unter dem Lead der FDP-Frauen. Geben Sie sich einen Ruck, geschätzte Finanzdirektorinnen und Finanzdirektoren. Für einmal kommt der Reformdruck nicht von der OECD, sondern von vielen Schweizer Paaren – insbesondere jungen Familien, welche gerne mehr erwerbstätig wären, wenn sich dies denn lohnen würde. Diesem Druck nachzugeben, ist doch sogar ungleich schöner als dem internationaler Steuerkommissäre.

Freundliche Grüsse

Kathrin Bertschy

Diese Kolumne erschien am 12.03.2024 im Tages-Anzeiger.