Wir kommen um schwierige Entscheide nicht herum

Wenn die Politik den Bürgerinnen und Bürgern verspricht, dass sie alles haben können, sollten wir wachsam bleiben. Schutz vor Reformen, vor Migration, vor jedweder Veränderung – das kann nicht aufgehen.

Bild: Ansgar Scheffold / Unsplash

Liebe Stimmbevölkerung, 

die Wahlen sind vorbei, seit Sonntag haben wir eine neue Bundesversammlung. Ein Signal, das die Menschen im Land an die Politik gegeben haben, scheint mir klar: die Sorge um wirtschaftliche Schwierigkeiten und die Furcht vor allzu viel Veränderung. Zugelegt haben jene Parteien, die den Wählerinnen und Wählern – wie der Politologe Michael Hermann bilanzierte – Schutz versprechen, vor hohen Kosten (SP) und vor Migration (SVP, MCG). 

Dieses Bedürfnis nach Schutz ist angesichts der Krisenzeiten verständlich. Viele Menschen arbeiten hart, und insbesondere auf Familien lastet ein grosser Druck. Da ist es verlockend, wenn einem das Weggli – mehr Sozialleistungen – und der 5er – weniger Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt – versprochen werden. Und dazu noch die Bäckerstochter. Die Sache ist nur: Das Weggli muss zuerst gebacken und der Franken verdient werden. 

Oder, konkret gesagt: Wir können nicht auf Migration verzichten, keine Abkommen mit der EU wollen, erwerbstätige Frauen nicht unterstützen – und dann gleichzeitig die Sozialleistungen ausbauen. Wir werden nicht darum herumkommen, Entscheide zu fällen. Die immer auch einen Preis haben.

AHV und berufliche Vorsorge müssen reformiert werden

Die in der Schweiz vergleichsweise guten Sozialleistungen müssen erst erwirtschaftet werden. Wir müssen unsere Sozialwerke reformieren, wenn wir wollen, dass sie auch künftig denen zugutekommen, die sie am dringendsten brauchen. 

Wir sollten beispielsweise die berufliche Vorsorge so erneuern, dass die Menschen mehr ansparen können und auch Teilzeitarbeit besser abgesichert ist. Doch die Reform stösst auf Skepsis. Stattdessen lockt die 13. AHV-Rente für alle – ausgerechnet dann, wenn die geburtenstärksten Jahrgänge der goldenen Boomerjahre in Rente gehen. Ja, die AHV sollte die Existenz sichern, und ja, sie tut das heute bei den tiefen Einkommen allzu oft nicht. Das ist tatsächlich ein Problem. Wir sollten darum gezielt die tiefen AHV-Renten erhöhen, Vorstösse dazu gibt es. Das bedeutet aber eben nicht, dass auch der Millionär vom Zürichsee eine Erhöhung um 1/13 braucht, nur weil dieses Weggli einfacher zu verkaufen ist. 

Wir bleiben auf Migration angewiesen

Die Schweiz verdankt ihren Wohlstand auch der Tatsache, dass sie mitten in Europa liegt und Fachkräfte aus vielen Ländern unseren Wirtschaftsmotor in Gang halten. Unser Land stünde heute still ohne die vielen Zugezogenen, die ihr Fachwissen und ihr Können mit ins Land bringen. Wir sind auch in Zukunft auf sie angewiesen. Stattdessen macht man sie dafür verantwortlich, dass der Wohnraum knapp wird und der Verkehr stockt, und will die Migration begrenzen. Bis 2040 fehlen im Arbeitsmarkt geschätzt 400’000 Berufsleute. Unternehmen verschiedenster Branchen haben bereits jetzt Schwierigkeiten, Personal zu finden.

Auch hier stehen wir vor derselben Situation: Die erwähnten geburtenstarken Jahrgänge, die jetzt in Pension gehen, werden in 10 bis 20 Jahren einen höheren Bedarf an Gesundheits- und Pflegepersonal haben. Personal, welches wir erst noch ausbilden müssen. Dasselbe bei den Infrastrukturen: Wollen wir auf einheimischen Strom setzen, können die Infrastrukturen im Moment gar nicht überall gebaut werden, weil es auf allen Baustellen an Fachleuten fehlt.

Was die bewahrenden Kräfte dann allerdings gleichzeitig auch nicht wollen: die erwerbstätigen Mütter des Landes allzu sehr unterstützen. Und damit wären wir bei der Bäckerstochter.

Bürgerlich-Konservative, die sich gern als wirtschaftsnah verkaufen, haben Mühe damit, von der Förderung des Familienmodells der Nachkriegszeit wegzukommen. Das grösste nicht genutzte Potenzial liegt in der Schweiz bei den Frauen. Sie können allzu oft nicht so hochprozentig erwerbstätig sein, wie sie das gern wären – weil die Strukturen nicht ausreichen, weil die privaten Anforderungen an Mütter noch immer zu hoch sind und weil alle Anreize dagegen sprechen, dass sie anständiges Geld verdienen.

Flächendeckende Tagesstrukturen und Individualbesteuerung sind noch lange keine Realität, Kinderbetreuung ist nach wie vor nicht erschwinglich, Elternzeit bleibt Frauensache: Wir erhalten sämtliche Hürden aufrecht, die Frauen davon abhalten, überhaupt oder in höheren Pensen erwerbstätig zu sein. 

Bei allem guten Willen: Das kann so nicht aufgehen. Wenn wir uns vor Entscheiden drücken, wo wir nun investieren wollen und welchen Preis wir zu zahlen bereit sind, wird uns am Schluss alles zwischen den Fingern zerrinnen: Der Fünfer fehlt in der Kasse, das Weggli bleibt Teig, und die Bäckerstochter bricht erschöpft zusammen.

Mit nachdenklichen Grüssen

Kathrin Bertschy

Diese Kolumne erschien am 21.11.2023 im Tages-Anzeiger.