Helvetia ruft – sorgen wir für Vielfalt!

In der Schweiz hat die Stimmbevölkerung so viel Mitsprache wie nirgendwo sonst. Doch unsere Demokratie ist aber nur so gut, wie sie auch tatsächlich die Bevölkerung repräsentiert.

Bild: Helvetia ruft

Geschätzte Bürgerinnen und Bürger,

Herzlichen Glückwunsch. Wir feiern heute den 175. Jahrestag der modernen Verfassung. Diese definierte das neue Parlament als oberste Gewalt des Bundes und setzte eine demokratische Grundordnung mit Gewaltentrennung, Exekutive, Zweikammerparlament, Grundrechten und freien Wahlen ein.

In 40 Tagen werden Sie die Volksvertreterinnen und -vertreter neu und wieder wählen. Wobei, einige stehen jetzt schon fest: Die Ständeräte in Obwalden und Uri wurden in aller Stille gewählt – niemand ist gegen sie angetreten. Das spricht vermutlich für ihre Arbeit in Bundesbern. Demokratiepolitisch ist es aber bedauerlich. Unser Milizsystem braucht politische Vorbilder, die kandidieren und andere motivieren, es ihnen gleichzutun: von der Schulpflege über den Gemeinderat bis ins Bundeshaus. Der Politikwissenschafter Fabrizio Gilardi hat aufgezeigt, wie wichtig dieser Effekt ist, damit insbesondere auch mehr Frauen in die Politik einsteigen. Seit 1848 gab es erst 45 Standesvertreterinnen in Bundesbern. Weniger, als der Rat Mitglieder zählt. Und bereits 853 Ständeräte. 

Warum uns das nicht egal sein darf?

Weil die Qualität der Demokratie und die Gesetzgebung, welche das Zusammenleben von uns allen prägt, besser und nachhaltiger ausfällt, wenn sie von einem Team mit einer Vielfalt an Perspektiven getroffen wird. Das gilt in der Wirtschaft, in Vereinen und in der Politik. Und es ist der Grundgedanke unserer Konkordanz. Sprachen und Regionen sind dafür wichtige Faktoren, aber nicht die einzigen. Die Bevölkerung soll sich mit politischen Gremien und deren Entscheidungen identifizieren können.

Nicht dass die Männer, die den Ständerat seit 175 Jahren dominieren, schlechte Politik machen. Sie haben aber oft eine andere Perspektive, andere Rollen im Leben und legen die Schwerpunkte auch so. Die wenigsten amtierenden Ständeräte – es sind immer noch 72 Prozent Männer – wissen, was ein Kitaplatz kostet. Haben sich über mehrere Monate am Stück um einen Säugling gekümmert. Die Unsicherheit bei der Rückkehr an den Arbeitsplatz erlebt, Teilzeit gearbeitet, kaum fürs Alter vorgesorgt oder sind an Endometriose oder einer anderen kaum erforschten Frauenkrankheit erkrankt. 

In all diesen Fragen stellt die Politik die Weichen. Mit der besseren Repräsentation der Geschlechter haben wir in der laufenden Legislatur vieles erreicht: Das moral- und sittenbehaftete Sexualstrafrecht wurde modernisiert, der Nationalrat hat ein Kita-Gesetz zur Unterstützung erwerbstätiger Eltern aufgegleist, der Bundesrat muss eine Botschaft zur zivilstandsunabhängigen Besteuerung vorlegen, und es liegt ein Auftrag für die bessere Erforschung von Frauenkrankheiten vor. Es sind Selbstverständlichkeiten, wenn wir ins nahe Ausland schauen. Bei uns sind das politische Anliegen, die es schwer haben. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die betroffenen Bevölkerungsgruppen kaum im Rat vertreten sind. 

In Ländern mit einem Mehrheitssystem ist die Regierung viel eher gezwungen, auf gesellschaftliche Bedürfnisse und Veränderungen zu reagieren. Und tut das auch: Spanien hat flugs eine Elternzeit von je 18 Wochen eingeführt, Deutschland die Ehe für alle zügig geöffnet, ohne dass dafür lange parlamentarische und föderalistische Prozesse notwendig waren. Gute Argumente also, um auf ein Mehrheitssystem zu wechseln? Die Verantwortung wäre klar definiert. Für Wählerinnen und Wähler würde klar ersichtlich, wer gute Arbeit leistet und wer an ihren Interessen vorbeipolitisiert. Bei den Wahlen könnte die Regierung entsprechend belohnt oder abgestraft werden. 

Im Schweizer System fehlt diese Unmittelbarkeit. Die meisten Parteien sind zeitgleich in der Regierung und der Opposition. Und selbst Parteien ohne Bundesratssitz haben die Möglichkeit, im Parlament auch mal zur Mehrheit zu gehören und etwas zu verändern. Alle Gewählten können konstruktiv etwas bewegen und sind erst noch mit einem Bein im Beruf verankert.


Gerade weil bei uns nicht wechselnde Perspektiven an die Macht kommen, ist es umso wichtiger, dass unsere Entscheidungsgremien die Bevölkerung gut repräsentieren. Die Perspektive von Frauen, von Menschen mit Migrationsherkunft und von Eltern, die mitten im Leben stehen und beruflich wie familiär stark eingespannt sind, ist heute untervertreten. Die Wirtschaft besteht zudem nicht nur aus selbstständigen Anwälten, Bauern und Verbandsfunktionären, welche heute viele Sitze besetzen. Operativ tätige KMU-Unternehmerinnen und -Unternehmer sind genauso wichtig – und vergleichsweise rar.

Sie haben die Wahl, geschätzte Bürgerinnen und Bürger! Als Co-Initiantin der überparteilichen Bewegung Helvetia ruft! liegt mir eine repräsentative Vertretung der Frauen natürlich besonders am Herzen. Ich bin mir aber bewusst, dass Repräsentativität viele Aspekte hat. Deshalb mein Aufruf an Sie: Unabhängig davon, welche Parteien Sie wählen, achten Sie darauf, der Vielfalt unserer Gesellschaft und damit unserem Sonderfall Rechnung zu tragen.

Mit freundlichen Grüssen, Kathrin Bertschy

Diese Kolumne erschien am 12.09.2023 im Tages-Anzeiger.