Liebe Frau Keller-Sutter, lassen Sie uns über die Aufgaben des Bundes sprechen

«Das ist doch keine Bundesaufgabe!» So tönt es im Bundeshaus aktuell bei der Kinderbetreuung – einem zentralen Anliegen für viele Mittelstandsfamilien. Es ist höchste Zeit, über Prioritäten zu diskutieren.

Bild: Aaron Burden / Unsplash

Liebe Frau Bundesrätin Karin Keller-Sutter 

Zurzeit diskutiert das Parlament über die familienergänzende Kinderbetreuung. In Zusammenarbeit mit den Kantonen sollen genügend zahlbare Kitaplätze in der ganzen Schweiz ermöglicht werden. Der Nationalrat hat einem entsprechenden Gesetz zugestimmt, nun ist der Ständerat am Zug.

Ihnen, Frau Finanzministerin, scheint diese Vorlage ein Dorn im Auge. Der Bundesrat beantragte, nicht einmal auf die Beratung einzutreten. Wenn das Parlament an der Vorlage festhält, möchten Sie im Gegenzug den Kantonsanteil an der direkten Bundessteuer um 0,7 Prozentpunkte kürzen. Heisst unter dem Strich: Man leitet 200 Millionen Franken von den Kantonen zum Bund um. Damit soll die Vorlage wohl insbesondere den Ständerätinnen und Ständeräten madig gemacht werden.

Bei der Pressekonferenz des Bundesbudgets meinten Sie, der Bundesrat wolle mit diesem Vorschlag «eine Diskussion über die Aufgabenteilung anregen». Einladung angenommen, führen wir diese Diskussion.

Die Bundesaufgaben sind breit. Nehmen wir die «Neue Regionalpolitik» – die das «Regional» ja eigentlich schon im Namen trägt. Über dieses Mehrjahresprogramm stehen 320 Millionen Franken in Form von À-fonds-perdu-Beiträgen und 400 Millionen Franken als Darlehen zur Verfügung. Der Bund förderte beispielsweise den Bau verschiedener Gondelbahnen in den Bündner und Walliser Bergen, teils mit Beschneiungsanlagen (in Tschierv) oder das Projekt Alaïa Chalet in der Gemeinde Lens, für den Bau eines Action-Sportzentrums. Spannende Projekte, keine Frage. Ob es zwingend Bundesaufgaben sind, kann man zumindest diskutieren.

Oder nehmen wir die Telekommunikation: zu PTT-Zeiten ein natürliches Monopol. Heute kann man sich fragen, warum der Bund eine Mehrheit der börsenkotierten Swisscom halten muss – um damit unter anderem an Pay-TV-Sendern für Filme, Serien und Sportübertragungen oder der Tochterunternehmen Fastweb im italienischen Breitbandnetz beteiligt zu sein.

Ganz anders ist die Entwicklung bei der familienergänzenden Kinderbetreuung. In der Nachkriegszeit dominierte das traditionelle Familienmodell: Der Mann arbeitete Vollzeit, die Frau kümmerte sich um Haushalt und Familie.

Dieses Modell gehört immer mehr der Vergangenheit an. Nicht weil es der Staat so befohlen hat, sondern sich die Präferenzen der Eltern und auch ihre finanziellen Notwendigkeiten geändert haben. Mütter müssen und wollen erwerbstätig bleiben, und Väter möchten bei Betreuung und Erziehung ihrer Kinder eine wichtige Rolle einnehmen.

Damit beide Elternteile im Erwerbsleben bleiben können, sind ausreichend zahlbare Betreuungsplätze eine Voraussetzung. Die Wirtschaft hat das längst erkannt, deshalb hat der Arbeitgeberverband die Bundeslösung von Beginn an aktiv mitgeprägt und unterstützt.

Das Bundesgericht hat entschieden, dass getrennte Eheleute ökonomisch für sich selbst verantwortlich sind. Nachehelicher Unterhalt wird nur noch im Einzelfall gewährt. Die neue Rechtsprechung orientiert sich damit an Familien, in denen sich Mann und Frau Kinderbetreuung, Haushalt und Erwerbsarbeit teilen.

Und auch der Bundesrat erwartet ökonomische Unabhängigkeit: Vor den Sommerferien hat er eine Reform der Hinterlassenenrente angekündigt. Verwitwete Frauen, deren Kinder nicht mehr unterhaltsberechtigt sind, sollen künftig nicht mehr lebenslang, sondern nur noch zwei Jahre eine Rente erhalten, um sich neu zu organisieren. 

Mit Blick auf die Gleichberechtigung und die wirtschaftliche Eigenständigkeit von Frauen und Männern ist dieser Entscheid nachvollziehbar. Es ist aber inkonsequent, wenn der Bund diese Erwerbstätigkeit erwartet, bei der dafür nötigen Infrastruktur dann aber keine Verantwortung übernehmen will.

In der Schweiz fressen die Kosten für die Kinderbetreuung 35 Prozent eines Durchschnittslohns weg. Die finanzielle Abschreckung für eine Rückkehr in die Erwerbstätigkeit ist sogar noch höher: Kehren Mütter in den Job zurück, geben sie im Schnitt sogar 65 Prozent ihres Lohns ab.

Das ist eine massive Belastung des Mittelstands, weltweit die zweithöchste. Im OECD-Schnitt belastet die Kinderbetreuung einen Lohn gerade einmal mit 13 Prozent. In den meisten Nachbarstaaten noch deutlich weniger.

Diese Staaten haben erkannt, was viele Studien belegen: Bei Eltern von kleinen Kindern schlummert ein enormes Fachkräftepotenzial. Auch eine vom Bundesrat in Auftrag gegebene Studie belegt, dass 31 Prozent der Mütter mehr arbeiten würden, wenn erschwingliche externe Betreuung vorhanden wäre. In einem Land, das nicht auf den Abbau von Rohstoffen, sondern auf die Ressource Bildung baut und diese nutzen will und muss, muss sich Erwerbsarbeit lohnen. Wenn der Lohn über höhere Steuern und Kosten für die Kinderbetreuung gleich wieder weggefressen wird, gehen wichtige Fachkräfte verloren.

Erwerbsfähige sollen ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu angemessenen Bedingungen bestreiten können – das besagt auch Artikel 41 der Bundesverfassung. Für viele Mittelstandsfamilien sind diese Bedingungen derzeit kaum mehr tragbar.  

Deshalb, geschätzte Frau Bundesrätin: Sie haben völlig recht, wir müssen über die Aufgaben des Bundes reden. Ich freue mich darauf!

Mit freundlichen Grüssen, Kathrin Bertschy

Diese Kolumne erschien am 08.08.2023 im Tages-Anzeiger.