Wir müssen aufhören, unsere Städte zu versiegeln

Öffentliche Plätze werden zubetoniert und so für Jahrzehnte zu gefährlichen Hitzeinseln. Der urbane Raum muss umgestaltet werden: Athen und Barcelona machen es vor.

Bild: Google Streetview

Lieber Peter Grünenfelder

Der Bundesrat hat vorletzte Woche kommuniziert, dass er einen Ausbau der A1 auf der Strecke Bern–Zürich und Lausanne–Genf auf sechs Spuren befürwortet. Die einen zeigten sich hocherfreut, die A1 sei chronisch überlastet. Andere wähnen sich in die 80er- und 90er-Jahre zurückversetzt, als die Autopartei Parolen wie «Bauen statt stauen» und «Freie Fahrt für freie Bürger» plakatierte.

Staus und Verkehrsüberlastungen sind ein Ärgernis. Sie kosten Nerven und Zeit, Verspätungen und verlorene Arbeits- und Freizeit gehen ins Geld. Es ist verständlich, dass die Politik nach Lösungen sucht.

Als designierter Präsident von Auto Schweiz dürften Sie, Herr Grünenfelder, in dieser Debatte bald eine gefragte Stimme sein. Dass Sie bis vor kurzem den liberalen und wissenschaftsaffinen Thinktank Avenir Suisse geleitet haben, wird Ihnen dabei zugutekommen: Denn die empirische Forschung widmet sich seit Jahrzehnten ausgiebig der Frage, welche Massnahmen das formulierte Problem – zu viel Stau – wirklich lösen. Und welche nicht. Schliesslich ist das ein Problem, das jede dicht besiedelte Region der Welt kennt. 

Nun, die Ergebnisse sind glasklar. Mehr Spuren führen fast immer und überall zu mehr Stau. Zu dieser Erkenntnis kommen Verkehrsingenieurinnen und -ökonomen immer wieder. Das Phänomen nennt sich induzierte Nachfrage: eine Erhöhung des Angebots (zum Beispiel hier von Strassen) führt dabei dazu, dass Menschen dieses Angebot noch stärker nachfragen als zuvor. Also: mehr Stau, nicht weniger.

Beobachtet wurde das erstmals 1930, als die Verkehrsplaner von New York erst die Triborough Bridge bauten, um die Queensboro Bridge zu entlasten, dann die Bronx-Whitestone Bridge, um die Triborough Bridge zu entlasten – und dabei zusehen mussten, wie die Verkehrszahlen auf allen drei Brücken stiegen, bis alle drei so verstopft waren wie zuvor eine allein.

Erst später lagen aber genaue Daten vor, die empirische Untersuchungen ermöglichten: Die bekannteste stammt von den Verkehrsökonomen Gilles Duranton und Matthew Turner. Sie verglichen die zwischen 1980 und 2000 gebauten Strassen und Autobahnen mit der Anzahl gefahrener Kilometer in den USA. Und stellten fest: Autoverkehr nimmt oft proportional zur Strassenkapazität zu. Erhöhte eine Stadt ihre Strassenkapazität um 10 Prozent, stieg die Zahl der Autofahrten ebenfalls um 10 Prozent. Wenn sie sie verdoppelte, verdoppelten sich die Fahrten ebenso. Die Forscher berücksichtigten dabei auch die Entwicklung der Bevölkerungszahl und der Pendler und zogen ein klares Fazit: Doch, es waren tatsächlich die Strassen selbst, die Verkehr und Stau brachten. 

Warum ist das so? Ganz einfach: Ein Spurenausbau macht Autofahren attraktiver. Die Menschen fahren öfter, legen längere Strecken zurück und sind sogar bereit, einen Umweg zu fahren, um dann auf der besser ausgebauten Strasse zu fahren. Zusammen führt das zu mehr Verkehr und Stau. Spätestens nach sechs bis zehn Jahren, auch dies zeigt die Wissenschaft, sind die Strassen verstopft wie nie zuvor. Obwohl intuitiv naheliegend, löst ein Strassen- und Spurenausbau das Problem nicht. Oder, wie Daniel Goeudevert, früherer Generaldirektor von Citroën Schweiz, bereits in den 1970er-Jahren der Branche selbst attestierte: «Wer Strassen säet, wird Verkehr ernten.» 

Auch auf der Website von Avenir Suisse findet man lesenswerte Beiträge zum Thema. Unter dem Titel «Verpasste Chance» wird festgehalten: «Teurer Kapazitätsausbau statt kluge Verkehrsdrosselung: die helvetische Verkehrspolitik». Im Beitrag wird erklärt, dass der Fokus noch immer zu sehr auf Kapazitätsausbau und zu wenig auf Verkehrsdrosselung und -lenkung durch Preisanreize liege. Die Forderung: ein echtes, nachhaltiges und faires Mobility-Pricing.

Ein solches erhöht den Preis für Mobilität, wenn die Nachfrage hoch ist, und reduziert ihn, wenn sie tief ist. Wer den Preis scheut, macht die Fahrt später oder vermeidet sie. Es ist ein höchst effektives Instrument: In London, Stockholm oder Singapur resultierte eine nachhaltige Verkehrsreduktion. Das ist auch für Schweizer Autobahnstrecken und Grossstädte möglich. Und für Strasse wie Schiene anwendbar. Es ist auf den ersten Blick wenig populär: warum für etwas bezahlen, das bislang scheinbar «gratis» ist? Die Verkehrsteilnehmer erhalten aber im Gegenzug mehr Komfort und kürzere Reisezeiten. Und die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler werden entlastet – schliesslich fällt das Geld für den Unterhalt von Strasse und Schiene halt doch nicht vom Himmel.

Auch durch Änderungen in der Arbeitsorganisation, indem Erwerbstätige Hauptverkehrszeiten meiden und grosse Ausbildungsinstitutionen ihre Anfangszeiten verschieben, lässt sich eine substanzielle Entlastung der Spitzenzeiten am Morgen und Abend erreichen. Es gibt also etliche Möglichkeiten, Stau und Verkehrsüberlastung – so gut wie möglich – zu vermeiden. Ein Kapazitätsausbau der Autobahn ist keine davon. 

Man muss das Auto nicht schlechtreden – Gewerbe und Landbevölkerung insbesondere sind darauf angewiesen –, und es ist richtig, das Stauproblem ernst zu nehmen. Aber: Wir sollten auf die Wissenschaft und clevere Thinktanks hören, wenn wir es wirklich lösen wollen, statt einfach auf mehr Beton und Teer zu setzen.

Ich zähle auf Sie!

Mit freundlichen Grüssen, Kathrin Bertschy

Diese Kolumne erschien am 27.06.2023 im Tages-Anzeiger.