Einmal versprochen, nicht mehr wegzukriegen?

Reformen zugunsten demografisch schwacher Gruppen haben es schwer. Selbst wenn sie gerecht wären. Das zeigt sich in Frankreich wie in der Schweiz.

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Lieber Emmanuel Macron 

Es mache Ihnen keinen Spass, sei aber notwendig. Sagten Sie letzte Woche in einem Fernsehinterview zur Rentenreform. Sie segeln zurzeit als Präsident Frankreichs hart am Wind. Der öffentliche Verkehr ist lahmgelegt, die Kehrichtabfuhr lässt den Müll liegen. Der gewerkschaftlich angeführte Protest entlädt sich lautstark: gegen Ihr Vorgehen, eine Reform einzuführen, ohne das Parlament darüber befinden zu lassen. Und vor allem gegen Ihr Reformprojekt: Sie wollen das Rentenalter Ihrer Landsleute auf 64 Jahre erhöhen und die Privilegien von Mitarbeitenden der Staatsbetriebe abschaffen. Dafür steigt die minimale Rente.

Sie tun diese Schritte, weil die Pensionskassen nicht mehr ausgeglichen sind. Und es umso schlimmer wird, je länger Sie zuwarten. Dass es darum geht, die heute auf Pump finanzierten Renten dauerhaft zu sichern und mehr Gerechtigkeit zu erreichen: Geht in den Demonstrationen schlicht unter. Und Sie werden womöglich bei den Wiederwahlen die Quittung dafür erhalten, diese Reform durchgesetzt zu haben.

In unserem direktdemokratischen System hat hingegen stets die Stimmbevölkerung das letzte Wort. Bei uns muss sich zuerst eine Mehrheit der Parteien zusammenraufen und dann die Bevölkerung überzeugen. Seit 20 Jahren hat das nicht mehr funktioniert: Zwei Reformen der beruflichen Vorsorge sind gescheitert. Nun hat das Parlament erneut eine Vorlage unter Dach und Fach gebracht. Der Umwandlungssatz, der die Höhe der ausbezahlten Renten bestimmt, wird besser der Lebenserwartung angepasst und von 6,8 auf 6 Prozent gesenkt. Darüber hinaus wird ausgebaut: Teilzeitangestellte und Arbeitnehmende mit kleinen Einkommen werden besser versichert.

Es ist eine längst dringlich gewordene Reform: Männer leben heute nach dem Pensionsalter im Schnitt noch 19,9 Jahre, Frauen 22,7 Jahre. Bei der Einführung des BVG 1985 waren es 14,9 bzw. 19,0 Jahre. Das sind 33 bzw. 19 Prozent mehr Lebensjahre, also entsprechend mehr insgesamt ausbezahlte Rente. Es ist eine faire Reform: Endlich sind auch Teilzeitangestellte gut versichert. Und es ist eine Reform, die auch noch kompensiert wird – die Übergangsjahrgänge werden gezielt entschädigt.

Trotzdem wird es schwierig sein, das Vorhaben durchzubringen: Die Gewerkschaften haben bereits angekündigt, das in jahrelanger Kleinarbeit errungene Paket per Referendum an die Urnen zu bringen und dort zu bekämpfen. Dabei haben sie durchaus Chancen. 

Aus einem einfachen Grund: Es ist äusserst schwierig, einer demografisch mächtigen Gruppe etwas wieder wegzunehmen – selbst wenn es anderen Bevölkerungsgruppen gegenüber gerecht wäre. Die Jahrgänge, die in den nächsten Jahren in Rente gehen, gehören zu den geburtenstärksten überhaupt. Und zu den politisch aktivsten noch dazu: Die Hälfte der Wählenden ist über 58 Jahre alt, dieser Median erhöht sich jährlich um vier Monate. Das macht baldige Rentner zu einer politisch mächtigen Gruppe – allein aufgrund ihrer Anzahl. Stimmen sie alle mit dem Taschenrechner ab, droht jeder Rentenreform ein Nein. Nur wenn sie in ihrer Rechnung auch noch ihre Kinder und Enkel einkalkulieren, sind sie geneigt, ihre eigenen Privilegien zu überdenken.

Die westlichen Nationen stehen alle vor derselben demografischen Herausforderung. Wie sichern sie ihre Altersvorsorgewerke?

Zum Beispiel mit Automatismen. Als erstes Land tat das in den 1990er-Jahren das sozialdemokratisch geprägte Schweden. Bei steigender Lebenserwartung wird seither länger gearbeitet, bei tieferer Kapitalrendite geringer verzinst. Sicherstellen tut dies ein automatischer Bilanzierungsmechanismus. Zahlreiche europäische Länder folgten dem Beispiel: Auch die Niederlande, Finnland, Grossbritannien, Italien, Portugal, die Slowakei und Griechenland haben ähnliche Automatismen beschlossen.  

Die Schweiz bestimmt Rentenalter und -höhe in der beruflichen Vorsorge nach wie vor politisch. Im Wissen, dass Kapitalrendite und Lebenserwartung nicht beeinflussbare Grössen sind und die Umverteilung von Jung zu Alt zuletzt jährlich 7 Milliarden ausmacht. Interessant ist, dass die Schweiz solche Mechanismen sehr wohl kennt: Beim Bundeshaushalt gewährleistet die Schuldenbremse, dass wir nicht Schulden auf Kosten kommender Generationen machen. Denselben Automatismus können wir auch für die Altersvorsorge vorsehen. Er schützt Minderheiten vor demografischer Macht und ist schlicht ein Gebot der Fairness.  

In Frankreich ist es einfach, etwas durchzusetzen. Die Herausforderung folgt danach: das Land wieder zu einen. In der Schweiz gehen die Wogen vor der Abstimmung hoch. Nach dem Entscheid sind die Differenzen aber meist schnell überwunden. Ich bin optimistisch, dass es dieses Mal gelingt. Auch darum, weil eine andere demografisch starke Gruppe endlich gebührend berücksichtigt wird, die in der Vergangenheit vernachlässigt wurde: die Teilzeitarbeitenden. Also Menschen, darunter viele Frauen, die oft sowohl im Erwerbsmarkt als auch in den Familien sehr viel leisten – und dafür in der Vergangenheit mit einer tieferen BVG-Rente bezahlen mussten. 

Und ich wünsche auch Ihnen, Monsieur le Président, dass Sie eine generationengerechte Altersvorsorge umsetzen können. Und es Ihnen vergönnt ist, die Bevölkerung wieder zu einen. 

Mit freundlichen Grüssen, Kathrin Bertschy

Diese Kolumne erschien am 28.03.2023 im Tages-Anzeiger.