Kindertagesstätten sind die Eisenbahn des 21. Jahrhunderts

Bezahlbare Kinderbetreuung ist eine Schlüsselinfrastruktur für die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz. Und darum keine Privatsache.

Bild: Unsplash / Jason Leung

Lieber Valentin Vogt,

Kürzlich habe ich Sie in der «Samstagsrundschau» gehört. Ein mögliches Scheitern des Bundesgesetzes zur familienergänzenden Kinderbetreuung bezeichneten sie als «Super-GAU». Mit Blick auf Eltern, deren Verdienst durch Steuern und Kinderbetreuung gleich wieder weggefressen wird, sagten Sie, der oberste Arbeitgeber des Landes, unverblümt: Da ist jetzt der Staat gefragt. Sie erinnerten mich an Alfred Escher. 

Escher warnte 1849, dass die Schweiz den Anschluss an die Moderne verpasse. Wenn die Eisenbahn um die Schweiz statt durch unser Land gebaut wird. Das Eisenbahngesetz brachte schliesslich den Durchbruch: Der Staat finanzierte. Bau und Betrieb der Bahnen wurde Privaten überlassen. So entstanden unzählige Eisenbahnkilometer und die Nord-Süd-Querung, der Gotthardtunnel.

Die Infrastrukturpioniere organisierten sich, um die Schweiz strategisch gut zu positionieren. Und legten damit den Grundstein für die wirtschaftliche Entwicklung und die künftige Wohlfahrt unseres Landes. Ganz im Sinne des liberalen Grundgedankens eines Staates: Rahmenbedingungen zu schaffen, welche die Bürgerinnen und Bürger ermächtigen, ihr Potenzial zu nutzen.

Heute aber mangelt es nicht an Schienennetzen. Sondern an Fachkräften – und die Situation spitzt sich zu. Sie, Herr Vogt, haben wie damals Escher erkannt: Das müsste nicht so sein.

Die fehlenden Arbeitskräfte wären parat. Wir haben sie ausgebildet, auf Staatskosten. Mütter (und Väter), die nicht erwerbstätig sind oder nur in reduzierten Pensen, obwohl sie das gar nicht möchten. 15 Prozent der Mütter bezeichnen sich in Umfragen des Bundesamtes für Statistik als unfreiwillig unterbeschäftigt. Sie würden gerne mehr arbeiten, können aber nicht, weil die Kinderbetreuung nicht bezahl- oder organisierbar ist. Mit anderen Worten: Sie bleiben dem Arbeitsmarkt fern, weil die Infrastruktur fehlt – eine erschwingliche Kinderbetreuung. 

Eine Kitarechnung von 2000 Franken pro Monat für zwei Kinder an zwei Wochentagen – das sind Rahmenbedingungen, welche die Bürgerinnen und Bürger nicht ermächtigen, ihre Erwerbstätigkeit auszudehnen. Sie können es sich oft schlicht nicht leisten. 

Das ist ähnlich sinnlos, als hätte sich zu Eschers Zeiten jeder Haushalt sein eigenes Züglein an den Arbeitsplatz finanzieren müssen. Kinderbetreuung ist eine Schlüsselinfrastruktur und darum halt doch keine Privatsache. 

Warum nur gelingt der Schweiz hier die Pioniertat nicht? Längst gäbe es Erfolgsmodelle, die wir uns nur noch von anderen westlichen Ländern abschauen könnten. Bei weitem nicht nur im Norden, sondern beispielsweise auch im Arbeiterland Portugal: Erschwingliche Kinderbetreuung ist dort längst als arbeitsmarktliche Notwendigkeit erkannt und etabliert. Portugal belegt Rang 6 im Ländervergleich. Die Schweiz landet – für den Mittelstand – auf dem letzten Rang der 37 Länder.

Warum andere Länder hier investieren? Genau wie bei Escher: weil es lohnt.

In der Politik wird oft darüber debattiert, wie viel etwas kostet. Mir fehlt dann häufig der zweite Teil der Rechnung: nämlich die Kosten, die anfallen, wenn man stattdessen nichts tut. Und das sind hier 3,25 Milliarden Schweizer Franken. Pro Jahr! So viel Wohlstand geht uns verloren, weil Eltern wegen der fehlenden Kitafinanzierung auf Einkommen verzichten oder die berufliche Entwicklung verpassen und weil Kinder von frühkindlicher Bildung nicht profitieren können. Gestützt wird diese Zahl durch eine umfangreiche ökonomische Studie des unabhängigen Schweizer Wirtschaftsforschungsinstitut BAK Economics. Natürlich stellt sich dieser Effekt zum Teil erst über die Jahre ein. Aber das war bei keinem Infrastrukturvorhaben in der Vergangenheit anders.

3,25 Milliarden Franken an Wohlstandsverlust: Das ist der jährliche Preis von «weiter wie bisher». 

Diesen Mittwoch hat der Nationalrat die Chance, mit dem Gesetz über die familienergänzende Kinderbetreuung Bund und Kantone künftig an diesem Infrastrukturvorhaben zu beteiligen. Damit es sich für alle hier ausgebildeten Personen lohnt, erwerbstätig zu sein. Ein Meilenstein für die künftige Entwicklung der Schweiz. Zum Glück wurden früher weitsichtige Infrastrukturvorhaben umgesetzt. Auch dank Vorkämpfern aus der Wirtschaft wie Ihnen, geschätzter Valentin Vogt. Sie haben erkannt, dass Kindertagesstätten eine Schlüsselinfrastruktur der Zukunft sind. Sie sind ein Pionier.

Mit freundlichen Grüssen, Kathrin Bertschy

Diese Kolumne erschien am 28.02.2023 im Tages-Anzeiger.