Individualbesteuerung. Lückenhafte Gesamtsicht des Bundesrats?

In Folge der Corona-Krise wird aktuell ein Konjunktureinbruch von mehreren Prozent erwartet. Die drohende Rezession könnte zumindest teilweise aufgefangen werden, indem die Schweiz ihr (brachliegendenes) Arbeitspotential besser nutzt. Dafür braucht es entsprechende Erwerbsanreize, dort wo sie bisher nicht ausreichend vorhanden sind: Das betrifft insbesondere gut ausgebildete, verheiratete Zweitverdienener/-innen mit Kindern.

Eine Individualbesteuerung hätte enorm positive Effekte auf die Beschäftigung. Eine Ecoplan-Studie aus dem Jahr 2019 zeigt mit Hilfe von Modellberechnungen sowie Hochrechnungen wissenschaftlich fundiert auf, wie sich unterschiedliche Steuersysteme auf die Beschäftigung und die Erwerbsanreize der Zweitverdiener/innen auswirken.

  • Die Einführung einer modifizierten Individualbesteuerung hätte alleine bei der Bundessteuer eine Zunahme der Beschäftigung von rund 19 000 Beschäftigten (Vollzeitäquivalente) zur Folge. Auf kantonaler Ebene dürften weitere rund 20 000 bis 40 000 Arbeitskräfte resultieren. Die Unternehmen könnten auf ein Fachkräftepotenzial von bis zu 60 000 zusätzlichen vollzeitäquivalenten Beschäftigten zurückgreifen.
  • Bei 80 Prozent der Personen, die ihren Erwerb ausweiten oder wiederaufnehmen würden, handelt es sich um Frauen im Alter zwischen 25 und 55 Jahren, die mehrheitlich Teilzeit arbeiten. Rund ein Drittel verfügt über einen Tertiärabschluss, 58 Prozent einen Abschluss auf Sekundarstufe II.

Eine Individualbesteuerung wäre nicht nur für Wirtschaftswachstum (resp. die konjunkturelle Erholung) sondern auch für die Gleichstellung von Frau und Mann fundamental: Das heutige Steuersystem stammt aus der Nachkriegszeit, als Frauen mit der Heirat den Erwerb aufgaben, es setzt immer noch die entsprechenden demotivierenden Arbeitsanreize aufgrund der Progression und der gemeinsamen Veranlagung und wirkt sich negativ vor allem auf die Erwerbstätigkeit von Müttern aus; mit den negativen finanziellen Folgeeffekten für die (individuelle) Altersvorsorge und den Sozialstaat (Kosten bei EL und Sozialhilfe etc.)

Der Bundesrat schreibt in seiner Antwort auf die in der aktuellen Debatte «Gleichstellung und Vereinbarkeit: Jetzt die Lehren aus der Corona-Krise ziehen» vom 18. Juni 2020 im Nationalrat traktandierten Interpellation 20.3487 «Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Gleichstellung verbessern und damit die Krisenresistenz von Gesellschaft und Wirtschaft stärken» zum Thema Verbesserung der Arbeitsanreize für Zweiteinkommen folgendes:

«Was die Verbesserung der Erwerbsanreize für Zweiteinkommen anbelangt, so schneidet von den bisher untersuchten Modellen für die Besteuerung der Ehepaare die Individualbesteuerung am besten ab». Ohne näher zu begründen, warum, schreibt der Bundesrat aber ebenso, dass er sich (…) «auf Grund einer Gesamtsicht gegen die Individualbesteuerung ausgesprochen hat».

  1. Inwiefern hat der Bundesrat bei seiner Gesamtsicht berücksichtigt, dass die Individualbesteuerung zusätzlich 60 000 Beschäftigte und ein entsprechendes BIP-Wachstum von geschätzten 1 Prozent generiert? Wie wurde dieses Argument konkret gewichtet?
  2. Inwiefern ist die Gleichstellung der Geschlechter in die Gesamtsicht des Bundesrates eingeflossen? Wie wurde dieses Argument konkret gewichtet?
  3. Kann der Bundesrat seine Gesamtsicht detailliert darlegen und insbesondere aufzeigen, wie der enorme Nutzen für Volkswirtschaft und Gleichstellung (vgl. Fragen 1 und 2) durch andere Argumente aufgewogen wird? Wie sehen diese anderen Argumente konkret aus und wie wurden sie gewichtet?
  4. Ist es gerade aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Situation nicht angebracht, diese Gesamtsicht zu revidieren und dem Parlament eine Botschaft zu Einführung einer Individualbesteuerung vorzulegen?